Am 20. Januar 2018 starb Klaus H. Hilzinger, emeritierter Literaturwissenschaftler der Uni Stuttgart.
Wenn ich an Herrn Hilzinger denke, dann fallen mir viele schöne und bewundernswerte Dinge ein. Natürlich seine Klugheit, sein wissenschaftlicher Scharfsinn, sein phänomenales Gedächtnis, das ihn zu einer wandelnden Enzyklopädie gemacht hat, aber auch seine Bescheidenheit und Menschlichkeit. Er war für mich ein Vorbild, ein Freund und eine Vaterfigur.
Hilzinger war allwissend. Wenn man ihn fragte, ob er einen wissenschaftlichen Tip habe, schüttelte er sich die Dinge aus dem Ärmel, aber niemals auftrumpfend, niemals überheblich, immer bescheiden.
"Herr Hilzinger, kennen Sie vielleicht etwas zum Verhältnis Literatur und Wahnsinn?" – "Davon habe ich keine Ahnung. Da bin ich der falsche. ... Aber vielleicht schauen Sie mal bei Soundso nach und bei Soundso. Ich habe da auch noch ein Buch von Soundso, das kann ich Ihnen ausleihen." Selbstverständlich waren das die drei wichtigsten Bücher zum Thema. "Gelesen habe ich die freilich nicht, nur durchgeblättert." – Aber er wußte alles, was drinstand.
Hilzinger war ein grandioser, ein genialer Lehrer, dem ich viel zu verdanken habe. Das meiste, das ich über Literatur weiß, habe ich von ihm. Und den russischen Formalisten.
Geh zu Hilzi, da lernst du was, wurde mir von Studenten geraten, als ich mein Studium begann.
Hilzi erfreute sich der höchsten Wertschätzung seitens der Studenten, gerade weil er hohe und höchste Anforderungen stellte, aber auch, weil er fair war. Er behandelte jeden mit Respekt, besonders in Prüfungen. Er war ein durch und durch netter, gütiger Mensch, dessen gelegentlicher Spott immer mild und nie verletzend gewesen ist.
Hilzinger vermittelte aber nicht nur das Funktionieren literarischer Strukturen, er vermittelte auch seine Liebe zur Literatur, die für sein geübtes Auge das Leben sogar in den beschissensten Momenten poetisierte:
"Ja, Herr Durst, der Arzt hat mich untersucht und gesagt: 'Sie haben einen Herzinfarkt. Wir müssen Sie operieren.' 'Dann gehe ich schnell nochmal nach Hause', antworte ich, 'und hole ein paar Kleidungsstücke'. 'Nein, nein, Sie bleiben hier!' Und nun ging ein Vorhang beiseite, dahinter stand schon das Krankenbett. – Genau wie bei Kafka."
In den rund 30 Jahren, die ich ihn gekannt habe, habe ich nur zwei Mal ein "Äh" von ihm gehört. Ich habe nie jemanden kennengelernt, der seine Sprache so vollkommen im Griff hatte, wie er. Herr Hilzinger verfügte über die Gabe, sich selbst in den kompliziertesten Sätzen niemals zu verirren und stets druckreif und mit endgültiger Präzision zu formulieren. Er war ein glänzender Dozent.
Das einzige, was mich tröstet, ist, daß er wahrscheinlich nicht gelitten hat. Zumindest hoffe ich das. Er ist nicht langsam und qualvoll an einer heimtückischen Krankheit elendiglich zugrunde gegangen oder hat das Grauen einer Demenz erlebt. Er ist im Schlaf gestorben.
Mit ihm geht ein weiteres Stück der großen Zeit der Stuttgarter Literaturwissenschaft für immer verloren.